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Experte nach Cherson-Rückzug: Kommt der Sturz des Putin-Regimes?


Nach Russlands Rückzug aus Cherson
"Russland wird immer wieder versuchen, Staaten nuklear zu erpressen"

  • Daniel Mützel
InterviewVon Daniel Mützel, Mykolajiw

Aktualisiert am 16.11.2023Lesedauer: 8 Min.
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Skibitsky über die Kämpfe in Bachmut: "Es ist ein verlustreicher Kampf. Aber unsere Linien halten den Angriffen stand."Vergrößern des Bildes
Skibitsky über die Kämpfe in Bachmut: "Es ist ein verlustreicher Kampf. Aber unsere Linien halten den Angriffen stand." (Quelle: Byron Smith)

Die russischen Truppen haben herbe Verluste erlitten. Was das für ein mögliches Kriegsende bedeutet, erklärt der Vizechef des ukrainischen Militärgeheimdienstes im Interview.

Die ukrainische Stadt Cherson wurde in der vergangenen Woche unerwartet zügig befreit, allerdings ohne größere Verluste für die russische Armee. Das führte schnell zu Mutmaßungen: Hat die Ukraine die russische Armee bei Cherson einfach abziehen lassen?

Wadym Skibitsky ist der Vizechef des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Im Interview mit t-online reagiert er auf diese Gerüchte. Er erklärt, ob schon bald mit einer ukrainischen Krim-Offensive zu rechnen ist und warum Russland langsam an seine militärischen Grenzen kommt. Das Gespräch wurde geführt, bevor am Dienstag in Polen eine Rakete einschlug.

t-online: Die Rückeroberung Chersons verlief schneller als erwartet. Doch Russland konnte einen Großteil seiner Soldaten und Fahrzeuge auf das andere Flussufer retten. Warum?

Wadym Skibitsky: Die Russen hatten zuvor Einheiten amphibischer Angriffstruppen nach Cherson verlegt, Verteidigungslinien vorbereitet und andere Maßnahmen ergriffen, um ihren Rückzug abzusichern. Einige Tage zuvor hatten sie den Sitz der Besatzungsverwaltung von Cherson nach Henitschesk verlegt. Das russische Kommando war trotzdem überrascht vom schnellen Vorrücken unserer Truppen.

Es gibt Gerüchte, wonach es eine geheime Absprache zwischen beiden Armeen gegeben hätte, nach dem Motto: Die russischen Truppen dürfen sich zurückziehen, dafür erspart sich die Ukraine einen blutigen Häuserkrieg in Cherson. Gab es so einen Deal?

Natürlich nicht! Die Operation zur Befreiung der Region Cherson begann bereits im September. Unsere Aktivitäten in alle Richtungen haben ein Ziel: die vollständige Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete.

Cherson war im Februar in kürzester Zeit in russische Hände gefallen. Gerüchten zufolge soll der damalige Bürgermeister die Karten der umliegenden Minenfelder an die Russen durchgestochen haben. Russische Panzertruppen, die auf der Krim gestartet waren, standen schon sechs Tage später in Cherson.

Es wird eine Zeit geben, in der wir diese Vorwürfe untersuchen werden. Zur Wahrheit gehört auch, dass unsere Hauptkräfte Ende Februar in der Ostukraine stationiert waren. Das primäre Schlachtfeld lag im Donbass, nicht im Süden. Zu diesem Zeitpunkt gab es Minsk I und Minsk II, und die Verhandlungen drehten sich um eine Lösung für den vorübergehend besetzten Donbass. Das Ergebnis war ein neuer Krieg. Daher ist unser Ziel heute ein anderes: Erst befreien wir alle besetzen Gebiete, dann verhandeln wir.

Der Cherson-Rückzug ist für den Kreml blamabel, die Stadt sollte "auf ewig" zur Russischen Föderation gehören. Aber bedroht das ernsthaft Putins Stellung in Russland?

In Russland verstehen die Menschen allmählich, was vor sich geht. Ein Sturz des Putin-Regimes ist plötzlich denkbar. Nachdem die Sowjetunion Afghanistan überfallen hatte, dauerte es noch ein Jahrzehnt, bis sie kollabierte. Putin hat weniger Ressourcen, weniger Macht, weniger Freunde. Ein Machtwechsel kann früher stattfinden.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung für die ukrainische Armee in der nächsten Zeit?

Wir beobachten, dass infolge der Mobilmachung in Russland neue Einheiten entstehen. Zudem werden gerade in allen russischen Militärbezirken strategische Reserven gebildet: im westlichen, südlichen, östlichen und zentralen Militärbezirk sowie in ihrer Nordflotte. Offiziell sollen sie die Grenzen der Russischen Föderation verteidigen, aber natürlich sind das Kräfte, die auch für einen neuen Angriff in der Ukraine eingesetzt werden können.

Wie bedrohlich ist die Mobilmachung für die Ukraine?

Der Zweck der Mobilmachung ist es, die russischen Verluste in den taktischen Bataillonsgruppen und anderen Einheiten auszugleichen. Wir beobachten das genau, weil es natürlich an einigen Punkten der Front den Druck erhöht. Die Truppen, die jetzt aus Cherson abgezogen werden, könnten nach Saporischschja und Donezk verlegt werden, nachdem sie mit neuen Rekruten aufgestockt wurden.

Das ist also eine ernstzunehmende Gefahr?

Eine Stärke des russischen Militärs ist die Fähigkeit, schnell Kräfte zu verlegen. Das nehmen wir ernst. Wir haben das während der Vorbereitungen unserer Gegenoffensive in Cherson beobachtet, als Russland Kräfte aus Saporischschja, Donezk, Charkiw sowie russischem Territorium dorthin brachte. Nach unseren Berechnungen hat das nur einen Monat gedauert. Das ist wenig. Das schnelle Verlegen von Truppen hat die russische Armee unter anderem im Syrienkrieg gelernt.

An welchem Frontabschnitt ist der Kampf für die ukrainischen Truppen derzeit am härtesten?

Es ist in alle Richtungen schwierig. Der Feind führt jedoch die meisten Angriffe in der Region Donezk durch. Eines der Ziele der sogenannten "militärischen Spezialoperation" ist laut russischer Propaganda, die Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk zu unterstützen und sich beide Regionen vollständig einzuverleiben. Die Russische Föderation hat dieses Ziel in acht Monaten Krieg nicht erreicht, aber aufgegeben hat sie es noch lange nicht. Wir sehen derzeit massive russische Aktivitäten bei Bachmut in der Region Donezk, wo die Kreml-Truppen fast täglich angreifen.

Kämpfen bei Bachmut hauptsächlich reguläre Streitkräfte oder Wagner-Söldner?

Sowohl Wagner-Truppen als auch Einheiten des südlichen Militärbezirks Russland greifen uns dort an. Es ist ein verlustreicher Kampf. Aber unsere Linien halten den Angriffen stand. Sie haben den Durchbruch aus verschiedenen Richtungen versucht: von Norden her aus Isjum, dann aus der Richtung Mariupol, jetzt von Popasna her. Hier ist das russische Militär dank der "Wagnerianer" teilweise erfolgreich. Zugleich werden sie unterstützt von taktischen Bataillonsgruppen des 1. und 2. Armeekorps, die Russland in den Jahren 2015/2016 auf ukrainischem Territorium geschaffen hatte.

Derzeit scheint Russland an vielen Stellen seine Verteidigungslinien zu verstärken: Satellitenbilder zeigen Schützengräben und Bunkeranlagen sogar nördlich von Mariupol und auf der Halbinsel Krim. Warum baut die russische Armee Befestigungen so weit weg von der Front?

Die Besatzer warten auf unsere Offensive zur Befreiung der Krim. Sie errichten nicht nur auf der Krim neue Defensivlinien, sondern auch weiter nördlich im Gebiet Cherson, um einen ukrainischen Angriff auf die Krim möglichst früh abzufangen. Aber das ist keine völlig neue Entwicklung. Russland hat schon vor der Invasion seine Verteidigungsanlagen auf der Krim ausgebaut. Zwei bis drei taktische Bataillonsgruppen waren dort in Rotation schon vor Februar stationiert.

Rechnet die russische Armee denn mit einer Krim-Offensive der Ukraine in naher Zukunft?

Das müssen Sie die Russische Föderation fragen. Ob wir dazu in der Lage sind, hängt von unseren Ressourcen ab, vor allem von Waffen und Munition. Wir brauchen jede Art der Munition, im Sowjet- wie im Nato-Standard. Das gilt besonders für Artilleriemunition. Für offensive Operationen ist unterstützendes Artilleriefeuer sehr wichtig. Wir benötigen daher vor allem Munition für die deutsche Panzerhaubitze, das polnische Krab-System sowie weitere Raketen für die amerikanischen Himars-Systeme.

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Zuletzt drohte Russland, Nuklearwaffen einzusetzen. Über die Frage, ob Putin blufft oder wirklich einen Atomschlag anordnen würde, gibt es erhitzte Debatten. Könnte Russland einen solchen Angriff vorbereiten, ohne dass der ukrainische Geheimdienst davon Wind bekommt?

Die Aufgabe des militärischen Geheimdienstes der Ukraine besteht darin, rechtzeitig aufzudecken, wenn die russische Armee eine Nuklearrakete vorbereiten sollte. Man kann nicht einfach per Knopfdruck einen Atomschlag ausführen. Das ist ein Prozess, und wir kennen einige Etappen sehr genau.

Wodurch?

Zum Beispiel beobachten wir die Aktivitäten bei russischen Nuklearübungen, insbesondere wenn sie auf der Krim oder in der Nähe unserer Grenzen stattfinden. Wir sehen, welche Einheiten die Atomsprengköpfe transportieren und wohin sie nach der Übung gehen. Wir kennen die Arsenale, wo das nukleare Material lagert, und die Einheiten, die sie verwalten. Wenn Russland wirklich etwas plant, werden wir Bescheid wissen.

Das Risiko für einen Nuklearschlag ist also gering?

Russland ist ein Atomstaat. Wenn der Kreml einen nuklearen Befehl anordnet, können wir nichts dagegen machen. Die einzige Lösung ist die Denuklearisierung des Putin-Regimes, um ihm die Fähigkeit zu nehmen, die Welt mit Atomwaffen zu erpressen.

Das ist derzeit aber Wunschdenken.

Es ist vor allem eine Aufgabe der internationalen Gemeinschaft. Klar, es ist nicht einfach: Russland sitzt im UN-Sicherheitsrat und kann alle sinnvollen Initiativen blockieren. Aber es muss das Ziel bleiben, sonst wird Russland immer wieder versuchen, Staaten nuklear zu erpressen. Kernwaffen sind für Putin eine Machtprojektion, sie sollen die Stärke der russischen Armee demonstrieren. Dabei verschleiern sie eher ihre Schwäche.

Was meinen Sie?

Ich glaube, Russland gelangt langsam an seine militärischen Grenzen. Zumindest bei der Produktion neuer Waffensysteme ist die russische Industrie stark eingeschränkt.

Manche Experten sagen, Russland habe fast endlose Waffen- und Munitionsreserven.

Aber wie alt sind diese? Wenn Sie Munition 40 Jahre lagern, können Sie die Hälfte wegwerfen. Viele der angepriesenen russischen "Wunderwaffen" sind auf dem Schlachtfeld nicht präsent. Ich wäre also vorsichtig mit russischen Angaben, worüber sie alles verfügen. Wo sind zum Beispiel die Armata-Panzer, die wir von russischen Militärparaden auf dem Roten Platz kennen und die für Putin den Krieg gewinnen sollen?

Hier und da sieht man ein Video eines Armata-Panzers auf Telegram.

Aber wo sind die anderen? Es ist der Erfolg der internationalen Sanktionen, dass die russische Militärproduktion enorm ausgebremst ist. Je länger die Maßnahmen andauern, desto schwieriger wird es für die Russische Föderation, Ersatzteile und neue Waffen herzustellen.

Welche Belege haben Sie dafür, dass sich Russlands Waffenarsenale leeren?

Das sehen wir zum Beispiel daran, dass der Kreml verbündete Staaten wie den Iran um Munition und Waffen bitten muss. Russland fehlen vor allem Raketen und Kampfdrohnen. Beim Einsatz von Ch-22-Marschflugkörpern zum Beispiel gab es eine Pause von anderthalb Monaten. Auch beobachten wir mittlerweile nur noch sporadisch den Einsatz von Iskander-Systemen. Zwischen März und Mai waren es deutlich mehr.

Wie viele Iskander-Raketen hat Russland noch?

Nach unseren Informationen verfügt die russische Armee nur noch über 120 Raketen für Iskander-Systeme. Vor dem Krieg waren es schätzungsweise 500.

Video | Aufnahmen zeigen Bau der gefährlichen Marinedrohne im Detail
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Quelle: t-online

Bei den Raketenangriffen auf ukrainische Städte spielen russische Kriegsschiffe im Schwarzen Meer eine wichtige Rolle. So auch bei den erneuten Angriffen am Dienstag. Wie ist der Zustand der russischen Schwarzmeerflotte?

Die Schwarzmeerflotte hält sich mittlerweile die meiste Zeit in der Nähe ihres Hauptquartiers bei Sewastopol auf. Nach der Zerstörung des Kreuzers Moskwa und anderer Kriegsschiffe in der Schlacht um die Schlangeninsel haben sie offensichtlich Angst, Operationen zu weit weg von der Krim auszuführen. Mittlerweile verfügen wir über gute Antischiffsraketen. Aber die russischen Kalibr-Raketen und Seezielflugkörper bleiben eine Bedrohung für uns. Zudem kontrollieren die Flugzeuge der russischen Schwarzmeerflotte einen Großteil des Schwarzen Meers. Das ist nicht nur für die Ukraine ein Problem. Einige Kalibr-Raketen flogen zum Beispiel auf moldauisches Territorium. Und die russische Militärpräsenz stellt auch für andere Staaten der Schwarzmeerregion eine Gefahr dar.

Wie sehr setzen die russischen Lancet-Kamikazedrohnen der ukrainischen Armee zu?

Die Lancet-Drohne hat eine kurze Reichweite. Vor allem für unsere Einheiten an der Front ist das ein Problem. Wir brauchen Zeit, um dieses Waffensystem zu studieren und uns darauf einzustellen. Bei den iranischen Drohnen haben wir auch nach einer gewissen Zeit dazugelernt. Mittlerweile können wir 75 Prozent von ihnen zerstören.

Wie wichtig sind Partisanen für die ukrainischen Gegenoffensiven?

Lokaler Widerstand ist sehr wichtig für uns. Das Parlament hat daher 2021 ein Gesetz erlassen, um die Bildung von Widerstandsgruppen zu unterstützen. Mittlerweile können wir mit unseren Partisanen besser kommunizieren und gemeinsame Operationen durchführen. Zum Beispiel haben wir Listen von Kollaborateuren in Cherson, die die Scheinreferenden im September mitorganisiert haben. Die Listen konnten wir nur mithilfe von Partisanen aufstellen, die uns Informationen zugespielt haben.

Wo sind ukrainische Widerstandszellen aktiv?

An vielen Orten, etwa in Cherson, im Gebiet Saporischschja und auf der Krim. Die Drohnenangriffe auf das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol im Juli wären ohne die Hilfe von Partisanen wohl nicht möglich gewesen. Aber auch Sabotageakte auf Kommunikationsnetze oder Stromleitungen gehen auf das Konto ukrainischer Widerstandskämpfer. Partisanen gehen aber hauptsächlich gegen militärische Einrichtungen vor. Das Hauptziel ist, den Feind zu schwächen und von unserem Territorium zu vertreiben.

Wie gefährlich ist der Partisanenkampf?

Es ist keine leichte Aufgabe. Das russische Besatzungsregime besteht aus Agenten des Inlandsgeheimdienstes FSB, der russischen Nationalgarde, regulären Truppen und Kollaborateuren. Viele Partisanen werden getötet. Aber es ist ein patriotischer Akt, der bei der Befreiung unseres Landes hilft.

Herr Skibitsky, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch Wadym Skibitsky
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